Der Kretschmann-Artikel ist auch online, muss ich für die Zeit kein Geld ausgeben. Der Satz zur Ehe hat grün-intern am meisten für Aufregung gesorgt. Zurecht. Geht gar nicht. Nun hat er sich entschuldigt und dann war es für mich wieder nur eine unnötige Provokation ohne weitergehende Folgen.
Viel mehr am Artikel stört mich jedoch diese Passage hier:
Die Gleichstellung von Mann und Frau ist vorangekommen, Homosexualität und alternative Familienmodelle sind weitgehend akzeptiert, Menschen unterschiedlicher Hautfarbe gehören selbstverständlich zum Straßenbild. Atomausstieg und Energiewende sind beschlossene Sache, und eine Vielzahl unserer Unternehmen hat erkannt, dass nachhaltige Technologien die Wachstumsmärkte der Zukunft sind. Man kann also mit Fug und Recht behaupten: Grüne Ideen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen und haben die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger überzeugt.
Ehrlich gesagt ist nicht mein Eindruck, dass wir in einer durchgrünten Gesellschaft leben, im sozial-ökologischen Elysium. Offenbar bewegt sich Winfried Kretschmann nur noch in einem Umfeld, das ihn zu dieser Einschätzung bringt. Oder er glaubt dem verbalen Greenwashing, das in die Politik Einzug gehalten hat.
Die Realität ist eine andere. Arm und Reich driften in Deutschland weiter auseinander, die Sozialversicherungen schonen bestimmte Berufsgruppen, die Verflechtungen von Staat und Finanzindustrie nehmen zu, Datenschutz wird durch Staaten und Konzerne ausgehöhlt, Verkehrspolitik ist so ideenlos straßenfixiert wie seit 50 Jahren.
Bürgerversicherung, gerechtes Steuersystem, Ausbau erneuerbarer Energien, neue Mobilität, Mitbestimmungskultur, Gleichstellung, globale Gerechtigkeit in der Handelspolitik usw.: Das sind Ziele, die nicht nur von 15-20 % AfD-affinen Modernisierungsverweigerern in Frage gestellt werden. Dazu gibt es oft fundamental andere Positionen der politischen Parteien in Deutschland. Und Grüne stehen da oft alleine gegen andere Parteien. Das ist auch okay, das ist das Wesen der Demokratie.
Und auch Grüne müssen selbstkritisch sein. Auf jeden Fall brauchen wir eine Instrumentendebatte, wie sich politische Ziele am besten erreichen lassen. Und wenn eine Welt sich ändert, müssen Positionen manchmal auch neu justiert werden ohne den Grundkonsens der Partei damit in Frage zu stellen. Soweit hat Kretschmann ja Recht.
Aber: Wer meint, die Durchsetzung einer sozialen und ökologischen Politik sei ansonsten quasi ein Selbstläufer, der irrt gewaltig. Und er untergräbt die dringend notwendige Thematisierung fundamentaler gesellschaftlicher Konfliktpunkte. So eine unambitionierte passive Haltung finde ich eigentlich auf lange Sicht am allerschlimmsten.