Der Traum von Europa

Das hätte ich nicht gedacht. Mit Geburtsjahr 1983 kennt man nur: Mehr Integration, mehr Europa, mehr Frieden. Sicher eine beschränkte Vorstellung, weil sie nur die eigene Realität im kontinentalen Lebensumfeld abbildet und nicht die globale Wirklichkeit. Aber ein schöner Traum.

Mit dem Votum aus Großbritannien wird ebenso deutlich wie bereits mit den Ereignissen in Ungarn, Polen, Österreich: Nein, es kann auch anders kommen, Träume können zerplatzen. Demokratien und demokratische Mehrheiten können sich so entscheiden, dass es historisch – vermutlich – falsch sein wird. Die falschen Entscheidungen, die falschen Mehrheiten, die falschen Politiker. Das vermeintlich richtige kann verlieren, ein Rückschritt kommen: Weniger Integration, weniger Europa. Und weniger Frieden? Das ist mehr als eine bittere Erfahrung, das macht Angst. Warum nicht auch ein Präsident Trump in den USA oder eine FPÖ-Regierung in Österreich, eine FN-Präsidentin in Frankreich?

Es macht Angst. Denn die europäischen Rechtspopulisten lassen ihre Masken fallen. Sie haben Jahre investiert sich einen europäischen Anstrich zu geben, den Nationalismus durch einen mehr oder weniger subtilen kulturellen Rassismus europäischer Art zu ersetzen. Nun fordern sie wie Wilders oder der FN Volksabstimmungen in ihren Ländern, um sie aus der EU herauszuführen. Denn die EU ist in ihren Genen doch das genaue Gegenmodell zum Nationalismus wie zum Rassismus. Wie stehen die Chancen für die Rechtspopulisten? Schwer zu sagen. Aber spätestens seit heute wissen wir: Es kann auch schiefgehen. Ein Albtraum?

Nun, Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Großbritannien ist natürlich ein Stück ein Sonderfall der EU. Die meisten Briten haben die EU nie als politisches Projekt gesehen, sondern als Wirtschaftsgemeinschaft. Mit Thatchers „I want my money back“ war klar: Da wird in die EU eher mit Einnahme-/Ausgabe-Rechnungen gearbeitet. Das reicht aber nicht, das darf nicht reichen.

Wichtig wird es nun zunächst sein, einen kühlen Kopf zu bewahren. Auch wenn ich für eine Unabhängigkeit Schottlands vom UK innerhalb Europas war, jetzt sieht es anders aus. Die Vorstellung einer Spaltung bis hin zu ihrer Manifestation in Grenzkontrollen zwischen Schottland und England ist absurd. Nein, das UK sollte wohl besser zusammenbleiben. Die EU hat sicher weiter mehr Interesse an einem gut aufgestellten Nachbarn als wenn das UK jetzt total zerrissen wird. Und noch eine Konsequenz: Das Projekt einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft ist auf lange Sicht gescheitert. Jetzt muss man wohl oder übel die Nato stärken und früh Einfluss nehmen, um sie als defensiven Verbund weiter zu entwickeln, damit es hier nicht auch noch über den Brexit zu einer Spaltung zwischen Europa und Nordamerika kommt.

Soweit der akut notwendige Realismus. Und wie Norbert Lammert sagte: Die Sonne ist auch heute aufgegangen.

Aber wie weiter mit Europa? Wir haben mit der EU einen Spagat versucht: Im Lichte eines über Jahrhunderte durch Kriege geschundenen Kontinents wurde die EU als politisches Projekt weit getrieben. Die Erweiterungspolitik war offensiv. Aber wie schon vor zehn Jahren glaube ich – und sehe mich darin bestärkt – dass die Erweiterung zu schnell verlief. Denn eine europäische Integration kann nur gelingen, wenn die Bevölkerung sie auch will und sie mit allen Konsequenzen trägt. Ob das überall der Fall ist? Vermutlich nicht. Und ja, in Zukunft wird es wohl auf zwei Geschwindigkeiten hinauslaufen: In der großen EU ein paar Regeln und Vorschriften zurücknehmen, in einem Kern wo es breit getragen wird, in klaren Strukturen vertieft integrieren bis hin zur Sozialunion. Das wäre eine Chance.

Doch das wird nur gelingen, wenn sich die EU ändert. Die Rolle und Verantwortung der EU wurde in der Brexit-Debatte kaum thematisiert. Das ist nicht angemessen. Auch die EU, auch die politischen Europäer, müssen sich nun fragen, warum man trotz Jahrzehnten der Mitgliedschaft eine Bevölkerung nicht überzeugen konnte, dass die EU ein gutes Projekt ist. Die EU wird nicht (mehr) durch breite Teile der Bevölkerung getragen, denn historische Dimensionen verblassen leider und sie reichen nicht mehr als Legitimation für alles aus.

Auch eine EU muss sich über mehr Integration dort, wo es nötig ist, wie bspw. bei Steuern, Sozialpolitik und Zuwanderung, und auch weniger Integration in anderen Bereichen klarer aufstellen. Soll ein politisches Großgebilde weiter demokratisch sein, müssen Verantwortlichkeiten im Sinne der Subsidiarität klar definiert werden. Das ist in Europa nicht der Fall. Die Bevölkerung erkennt in dem Dickicht an europäischen Vorschriften, Zuständigkeiten, mit Richtlinien, Verordnung, Leitlinien kaum die wahren Verantwortlichen. Das hat Europa leider für viele Menschen, die sich nicht jeden Tag zu 100 % mit politischen Prozessen befassen (können), verdächtig gemacht, gar kein Projekt für die Bevölkerung zu sein. Und nationale Regierungen haben dieses Dickicht dann immer gerne missbraucht, um unbequeme Entscheidungen auf Brüssel / Straßburg zu schieben. So entsteht das Misstrauen gegenüber dem vereinten Europa und gegenüber politischen Prozessen und Personen insgesamt. Und würde sich dies verfestigen, wäre das sehr schlecht.

Denn, natürlich bleibt es richtig: Die globalen Herausforderungen, sozioökonomisch und ökologisch, kann man nicht mit den Nationalstaaten lösen. Wer die kontinentale und globale Spaltung in Arm und Reich, Migrationsbewegungen mit allen ihren Auswirkungen, einen voranschreitenden Klimawandel als Probleme erkennt, der muss – abseits von globaler Kooperation und Integration – das Ende der europäischen Nationalismen und mehr Europa wollen. Denn nur über Europa wird man sowohl hier wie auch global Chancen haben, genügend Einfluss im Sinne von globaler Friedenspolitik, sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz haben können. Doch wer würde derzeit behaupten, dass die EU diesem Anspruch genügend gerecht wird?! Keine einheitliche Zuwanderungs- und Asylpolitik, keine Politik der globalen Armutsbekämpfung. Stattdessen Bankenrettung, innereuropäische Steueroasen, an die man sich nicht heran traut. Aber gleichzeitig ein Wust an Regeln, die z.B. die Privatisierung der Daseinsvorsorge vorantreiben. Mal ehrlich: Sind wir zufrieden damit wie sich die EU derzeit präsentiert?

Das ist der Kern: Wir müssen auch über die EU reden. Wir müssen darüber reden, was ihre Aufgaben sind. Wie kann Europa den Menschen helfen und dies auch klar machen? Wo soll es mehr Integration sein und wo weniger? Wie schaffen wir transparente demokratische Strukturen?

Das vereinigte Europa als Projekt ist nur zu retten, indem man die Bevölkerung mitnimmt. Und das geht nur, wenn klar strukturiert und definiert wird, vermutlich auch mit zwei Geschwindigkeiten. Das ist eine harte Aufgabe für alle, die weiterhin mehr Europa wollen. Aber nur so wird die Bevölkerung die europäische Idee unterstützen: Wenn glaubhaft vermittelt werden kann, dass Europa nicht nur eine nette Idee ist, nicht nur ein Traum. Sondern, dass man glaubhaft sagen kann, dass Europa mehr Chancen als Zwang bedeutet, nur das regelt was geregelt werden muss, verständlich und transparent aufgestellt ist und für die Probleme der Menschen die richtigen Antworten hat. Das ist mal eine Aufgabe.

„To realise our dreams we must decide to wake up.“ – Josephine Baker